Das sorbische Gesangbuch

Auszug aus einem Vortrag des Slawisten Dr. Gerald Stone aus Oxford, vorgetragen am 5. 6. 2010 anlässlich der feierlichen Übergabe des neuen sorbischen evangelischen Gesangbuches in der Michaeliskirche zu Bautzen. – Zum 300. Jahrestag des ersten sorbischsprachigen evangelischen Kirchengesangbuchs in der Oberlausitz – Das ist ein großes Thema, schon deshalb weil das obersorbische evangelische Gesangbuch im Laufe von drei Jahrhunderten mindestens 35 Auflagen erlebt hat. Gründe für den hohen Stellenwert des Kirchenliedes sind vor allem die bekannte sorbische Glaubenstreue und die Liebe der Sorben zu Lied und Gesang. Seit der Reformation waren Kirchenlieder überall zu hören: in der Kirche, in den Wohnhäusern, in den Spinnstuben und sogar bei der Arbeit (wobei über längere Zeit die Frage diskutiert wurde, ob es angebracht ist, bei der Arbeit Kirchenlieder zu singen). Die Sorben hatten ihre besondere Art des Kirchenliedgesangs, die sich bis ins späte 19. Jahrhundert erhalten hat. Der Schriftsteller Ota Wićaz schreibt darüber in seinen Kindheitserinnerungen: Es wurde mit etwas zitternder Stimme, auf ganz alte Art gesungen, jeder Satz mit dem folgenden durch lange Schleifen verbunden.

Das niedersorbische Gesangbuch

Die ersten uns bekannten Texte sorbischer Kirchenlieder gehören zu den ältesten schriftlichen Zeugnissen der sorbischen Literatur überhaupt. Sie sind niedersorbisch und zu finden im Gesangbuch von Albin Moller, Pfarrer in Straupitz, von 1574. Die von Moller veröffentlichten 122 Lieder, Übersetzungen aus dem Deutschen oder Lateinischen, waren nicht alle von ihm – zumindest zwei stammen von Simon Gast, dem ersten evangelischen Prediger in Lübben/Spreewald aus dem Jahre 1545. Dass auch vor dem Druck von Mollers Gesangbuch bereits in den Gemeinden der Niederlausitz sorbisch gesungen wurde, erwähnt Moller selbst in seiner Vorrede. Es fehlte im niedersorbischen Kirchengesang allerdings auch später lange Zeit (über Jahrhunderte) die Einheitlichkeit. Es wurden weitere Gesangbücher veröffentlicht, deren Geltung in den Gemeinden häufig begrenzt war. Erst im Jahre 1877 beschloss eine Gruppe sorbischer Geistlicher, der der bedeutende Dichter Mato Kosyk angehörte, ein vollständig revidiertes Gesangbuch herauszugeben, das dann 1882 erschien und 617 Lieder enthielt. Weitere Auflagen folgten 1884, 1901 und 1915. Dieses Gesangbuch wurde bis zum Verbot der sorbischen Gottesdienste im Jahre 1941 benutzt; erst nach langer Pause erschien 2007 die neue und vorerst letzte Ausgabe der „Duchowne kjarliže“ (Geistliche Lieder).

Die Anfänge des obersorbischen Kirchenliedes

Die Geschichte des Schrifttums beginnt auch im Obersorbischen mit dem Kirchenlied. Die ersten acht Lieder finden wir im handschriftlichen Gesangbuch von Gregorius B. (sein Familienname konnte noch nicht festgestellt werden), der wahrscheinlich katholischer Geistlicher war, aus dem Jahre 1593. Vier von acht sind Übersetzungen von Lutherliedern; die konfessionellen Grenzen waren zu dieser Zeit noch nicht sehr fest. Das erste gedruckte Kirchenlied in Obersorbisch ist katholischer Herkunft: von Jakub Xaver Ticin aus Wittichenau, eine Übersetzung des lateinischen „Ave maris stella“, von 1685. 1690 veröffentlichte der bedeutende religiöse Schriftsteller Jurij Hawštyn Swětlik in seinem Gesangbuch „Serbske katolske kěrluše“ (Sorbische katholische Kirchenlieder) bereits 86 Texte. Der namhafteste katholische Hymnologe war der im 18. Jahrhundert wirkende Michał Wałda, dessen 1787 erschienene „Spěwawa Jězusowa Winica“ 659 Kirchenlieder beinhaltet, von denen angeblich 130 aus evangelischen Gesangbüchern übernommen worden sind.

Das gedruckte evangelische Gesangbuch von 1710

Als das 18. Jahrhundert begann, hatten die Niedersorben längst ihr Mollersches Gesangbuch, auch die katholischen Sorben hatten das Swětliksche, nur die evangelischen Sorben warteten noch auf eine gedruckte Buchversion ihrer Kirchenlieder. Aus etwas früherer Zeit lagen nur zwei Liedübertragungen, und zwar von „Jesu meine Freude“ und „Du Friede-Fürst, Herr Jesu Christ“ vor, die Michał Frencel 1688 in seinem Buch „Postwitzscher Taufstein“ veröffentlicht hatte. Im übrigen musste sich jeder Pfarrer für seine Gemeinde die Liedtexte selbst ins Sorbische übersetzen, die Kinder lernten diese dann im Unterricht durch vielfaches Wiederholen auswendig und brachten sie in den Gottesdienst ein. Dass damit jede Gemeinde ihre eigenen Liedversionen hatte, schuf viel Unruhe unter den Leuten, wenn sie von einer Gemeinde in eine andere zogen. Im Jahre 1689 beschlossen die Landstände der Oberlausitz, „die sorbischen Kirchenlieder zu revidieren und im öffentlichen Druck“ herauszugeben. Es wurde eine Kommission aus drei Pfarrern (Pawoł Prätorius, Jan Ast, Jurij Matej) und einem Gymnasiasten (Jan Wawer) berufen, die die Arbeit übernahm. 1710, also vor genau 300 Jahren, erschien „Das neue teutsche und wendische Gesangbuch“ mit 202 Liedern in Sorbisch und Deutsch. Später wurde es viele Male neu aufgelegt, wobei die Anzahl der Lieder im Laufe der Zeit wuchs. Die letzte Gesamtausgabe vor unserer Zeit war von 1931, die gekürzte Version von 1955 enthielt 314 Lieder. Der Pietismus – Herrnhut – Hersen Am Anfang des 18. Jahrhunderts entwickelte sich der Pietismus – in Deutschland vor allem unter dem Einfluss Philipp Jakob Speners – zu einer breiten religiösen Bewegung, die auch die Sorben erfasste.

Die ersten sorbischen Kirchenlieddichter, die aus dem Volke kamen, waren Herrnhuter Brüder. Als Vorbild galt Ernst August Hersen, ein gebürtiger Deutscher, der binnen kurzer Zeit das Sorbische erlernt hatte und in Teichnitz sorbisch predigte. Er übersetzte viele Herrnhuter Lieder und gab 1750 ein kleines Gesangbuch unter dem Titel „Hłós teje njewjesty Jezusoweje“ (Die Stimme der Braut Jesu) heraus. Hersens Wirken fand bei sorbischen Pfarrern nicht überall Zustimmung, trotzdem wurden 14 Lieder aus seinem Liederbuch ins obersorbische evangelische Gesangbuch aufgenommen.

Originale und Übersetzungen

Die überwiegende Mehrzahl der sorbischen Kirchenlieder sind Übersetzungen deutscher Liedtexte, nur wenige Originalschöpfungen. Die Literaturhistoriker bedauern dies gewöhnlich und heben die Bedeutung der Originale hervor. Ganz anders war verständlicherweise die Meinung der Kirche seit der Reformationszeit: ihr ging es besonders um Bibeltreue. Der künstlerische Wert ist allerdings ungeachtet dessen, ob es sich um Übersetzungen oder Originale handelt, unterschiedlich. Manch eine Übersetzung hat eine höhere literarische Qualität als manches Original, und die Übersetzungen gehören ebenso zum beachtenswerten Bestand der sorbischen Literatur. Übrigens sind auch viele deutsche Kirchenlieder Übertragungen aus dem Lateinischen oder Hebräischen. Schlusswort Die Kirchenlieder übten eine große Wirkung auf das sorbische Volk und die sorbische Kultur aus. Auch als viele Sorben noch nicht lesen konnten, hatten sie über die Kirchenlieder Kontakt zum religiösen Schrifttum. Und als sie lesen konnten und zu schreiben begannen, dienten ihnen die Kirchenlieder als stilistische Muster, so wie wir das etwa in den volkstümlichen Dichtungen eines Petr Młónk und eines Jan Bohuwĕr Dalwica-Dólba beobachten können. Ihre Gedichte erschienen in Sammlungen für sich, sie fanden nicht Eingang in die Kirchengesangbücher. Und auch im Schaffen solcher Schriftsteller wie Handrij Zejler oder Michał Domaška gibt es Gedichte im Stile der Kirchenlieder, die nicht im Gesangbuch stehen. Die Grenzen zum sorbischen Kirchenlied sind fließend und seine Geschichte an und für sich noch umfangreicher, als sie hier dargestellt wurde. Auszug: Dr. H . Jentsch, Bautzen.